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Jacques Delahaye
17. Juni 1928 - 13. Mai 2010
Bildhauer

Pierre Restany
(wikipedia)

Text “Delahaye” aus: CIMAISE - revue de l’art actuel (S. 34-36).
Januar-Februar 1958
(erneut veröffentlicht: Jacques Delahaye - Der Bildhauer. Kettler Kunst, 2006.
Herausgeber: Theo Bergenthal / Joachim Stracke)


”Delahaye”

von Pierre Restany

Brancusi und Gonzalez haben, jeder auf seine Art, die zeitgenössische abstrakte Skulptur beherrscht. Diese Schöpfer neuer Formen blickten weit voraus. So klar in die Zukunft weisend, daß einer ganzen Generation von Künstlern nur Nachahmungen oder schlichte Umsetzungen übrig blieben, -  die mehr oder weniger glücklich ausfielen. Wenn man Arp ausnimmt, der ein besonderer Fall ist und dessen Vorgehensweise die lange Entwicklung einer kreativen Idee umfasst (die einfachen Formen von Arp sind das  Produkt einer wahrhaften Askese in der Formgebung), ist die Bilanz unter den aktuellen Bildhauern, die jetzt 50 und mehr Jahre alt sind, mager. (Signori repräsentiert ohne Zweifel die erfreulichste Ausnahme).

Warum also soll man sich wundern, daß sich die jungen Bildhauer durch die Arbeit mit neuen Materialien angezogen fühlen, stimuliert durch die vielfältigen Möglichkeiten der Entdeckungen unserer Epoche: Glas, Plexiglas, Kunststoffe, Polyester, und was da sonst noch so ist ... .Versuche in dieser Richtung gibt es endlos, und sensationelle  Ausstellungen gibt es mehr und mehr. Es wäre vielleicht gut, alle diese  Experimente in einem jährlichen Salon zusammenzufassen, das würde  schnell zum wichtigsten Wettbewerb des Jahres, Ähnlich der Erfindermesse. Die angewandte Kunst würde sich da in guter Nachbarschaft befinden zur funktionalen Nutzung in der anderen Kunst.

Dieses Aufblühen solcher Erscheinungen (wobei der Witz und die Ängstliche Suche nach Originalität allzu oft nicht ausreichen, ungeschickte  Versuche ohne innovative Gestaltungskraft zu rechtfertigen), bezeugen jedenfalls eine gewisse Unsicherheit und das Bewußtsein, daß es noch ungenutzte Möglichkeiten geben muß.

Darum kommt man sich ein bißchen vor wie in einem alten Bus in einem unwegsamen Gebirge, man weiß nicht recht, wohin es geht: Das Zusammentreffen mit einem Delahaye in einem schlimmer als  Baudelair´schen Durcheinander stellt sich als eine der seltenen echten Trouvaillen heraus. Dies muß betont werden.

Das fängt an mit einem “café-rhum” in dem kleinem Bistro dem Rathaus des 18. Arrondissements gegenüber. Delahaye kennt es seit eh und je, er gehört genau wie der Maler der Fenster und der Eiffeltürme zur Ikonographie eines Aristide Bruant und Maurice Chevalier: ganz aus einem Stück, immer lebhaft, streitbar bei dem, was ihm am Herzen liegt, mit  einer geschärften Sensibilität, die zum Schutz durch das Gehabe eines Straßenjungen verdeckt ist.

Ein junger Bildhauer von 29 Jahren, ohne soziale Absicherung (weder besondere Lebensumstände, noch reiche Erbschaft), führt im Jahre 1957 ein schweres Leben. Er arbeitet auf kleinstem Raum, wo immer er kann (bis letzten Monat war es ein ungenutzter Raum in der Wohnung der Familie). Trotzdem keine Spur von Bitterkeit oder von geistiger Beschränktheit.

Was von Anfang an verblüfft, neben den beliebigen ersten Sätzen, ist eine absolute Ehrlichkeit, ein seltener Hang zu Begeisterungsfähigkeit und Offenherzigkeit. Delahaye gehört zu den instinktsicheren Gestaltern, die den Rhythmus in sich spüren, ihn pflegen und bewahren.

Seine Arbeitsregel, mit zwei Worten konkretisiert, lautet kontrollierte Inspiration. Am Anfang benutzt er die praktischsten Materialien, die am schnellsten im täglichen Leben verfügbaren: Papier, Textilfasern in formbarem  Material, Wellpappe, Holzstücke, alte Baumstümpfe. Rhythmische Motive  entstehen durch Zusammenfügen dieser Grundelemente. Die (provisorischen) Formen, die so entstanden sind, werden mit einer dünnen Gipsschicht  überzogen, die ihnen den erforderlichen Zusammenhalt und die notwendige plastische Dichte gibt, auch eine gewisse Einheitlichkeit (relativ  gesehen). Einige sehr einfache Ideenflüsse koordinieren und lenken den  Fortgang: die Liebhaber von Chronologien können so das Werk in  verschiedene Perioden einteilen und einige Hauptthemen herauslösen, die  zeitlich aufeinander folgen: 1952 die Insekten (Ensembles aus  Schilfrohren), die Vogel-Gestalten 1953, dann seit 1954 die Serie von Tieren, der sich drehende Fisch, die Katze, das Pferd, das Eier legende  Wesen ..

Aber eines der Hauptcharakteristiken dieser Schöpfungen bleibt die gewollte Widerrufbarkeit des formalen Ausgangspunktes (und da scheint die Auswahl der genutzten Materialien voll gerechtfertigt). Dieses Werk neigt nicht zu einer Ästhetik der Form, sondern zu einer langsamen und  hellsichtigen Verwirklichung von Archetypen, die immer eine mögliche  zukünftige Form in sich bergen. Das Endstadium (diese Sklerose der Steinbildhauer) wird nie erreicht: der Bronzeguß fixiert einen  bestimmten Rhythmus, vom Autor zugelassen und anerkannt, auf einem bestimmten Niveau der Ausarbeitung, eines inneren Gleichgewichts und einer überprüfbaren Plastizität. Die so herausgelöste Form wird wieder  durch die darüber hinaus gehende Arbeit des Künstlers in Frage gestellt, wieder aufgenommen, weiter entwickelt, in einen neuen grundlegenden  Zusammenhang gebracht. So entsteht Schritt für Schritt ein Werk, ohne Zugehörigkeit zu Moden heutiger Skulptur.

Im weitesten Sinne: seit 1956 (dem Datum, an dem Delahaye an der Ausgestaltung der Kirche von Baccarat teilnimmt) sind die verschiedenen Glieder der Kette ineinander gefügt in einer Serie von Strukturen, in denen die Grundformen einer sich zuspitzenden Zusammenfassung  unterworfen werden. Dieser dynamische Eindruck der Form hebt die innere Bewegung besonders hervor und steigert sie darüber hinaus fast bis zum Zerspringen. In einer der letzten Skulpturen, einem Ensemble aus vielfältigen Elementen, ist man regelrecht Zeuge einer morpho-rhythmischen Gestaltwerdung durch ein langsames Zerfallen der Mutter-Form.

Das Material selbst tut noch das Seinige zu der beunruhigenden  Monumentalität des Werkes hinzu: Die glatten und geschwungenen Flächen  wechseln sich ab mit körnigen und kraftvollen, aufgerauht durch Risse.  Aus diesen chaotisch erscheinenden Strukturen tauchen, unwiderstehlich  in ihrem Schwung, die Hauptspannungslinien des Rhythmus auf. Ex pluribus unum: ein Ganzes entsteht aus dem Verschiedenartigsten, bei dem die  Bronze wesentlich offenkundiger noch als der Gips des Modells den zugrunde liegenden Reichtum der Vielfalt unterstreicht.

Delahaye ist ein bemerkenswert guter Zeichner: die Zeichnungen von Skulpturen sind gleichzeitig Gedächtnisstützen und intimes Tagebuch. Wenn aber bei  Delahaye die Zeichnungen mit den wichtigsten Problemen seines  künstlerischen Schaffens verbunden bleiben, läßt er dies im Allgemeinen nicht direkt sichtbar werden: Er zeichnet, er hat immer gezeichnet. Darin sucht der Künstler nicht Bruchstücke einer persönlichen Gestaltung, sondern im
Gegenteil eine Entspannung, eine Erholung für Hand und Geist. Und dafür ist jeder Zettel gut, der Zeichner zeigt eine klare Vorliebe für die Rückseite von Metrotickets: ein eng begrenzter Raum, der zu feinster Zeichnung anregt, leicht und präzise.

Schließlich benutzt  Delahaye seit Beginn dieses Jahres Lithographie-Farbe, die er direkt mit dem Messer aufs Papier bringt. So erhält er Schattierungen von tiefstem Schwarz zu Graustufen, die die Lebhaftigkeit der rhythmischen Be- wegung betonen und diesen gezogenen Farblinien eine ganz besondere plastische Dichte geben: das sind so- zusagen die Schwingungen seiner Skulptur.

Delahaye besitzt in sich die Kardinaltugenden eines großen Bildhauers: Erfindungsreichtum und plastisches Gespür. Das schöpft er voll aus. Umso besser. Seine Werke, schlank aufgeschossen, zerrissen, herzergreifend, bereit loszuspringen, können nicht unbemerkt bleiben und einen noch weniger indifferent lassen: sie sind mit dem untrüglichen Siegel von Größe gezeichnet.

 

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